Wir schreiben das Jahr 2024 – eine Vision

In den Feuilletons europäischer Qualitätszeitungen wird über eine vergleichsweise kleine, unbekannte, aber überraschend innovative Stadt vor Wien berichtet. Nicht etwa neue Bauprojekte oder Großveranstaltungen stehen im Zentrum des Interesses, sondern der mutige und innovative Ansatz, die Zukunft der Stadt auf Basis der gewachsenen Strukturen, gemeinsam mit den lokalen Akteur*innen und inspiriert durch europäische Ideen aktiv für die nächsten Generationen neu zu gestalten. Experimentelle künstlerische, angewandte wissenschaftliche, aber auch praktische nachbarschaftliche Projekte erlaubten ein Ausprobieren, ein aus Fehlern Lernen und machen die Zukunft dieser Stadt greif- und ­gestaltbarer. 

Kunst als Katalysator

St. Pölten ist es gelungen, einen anspruchsvollen theoretischen Ansatz zu entwickeln, der durch die Form der künstlerischen Umsetzung bzw. Intervention, von den großen Institutionen bis zu den Initiativen und Akteur*innen der freien Szene und den starken Fokus auf Kunstvermittlung weit über das übliche Publikum hinaus wirkte. In einem breit angelegten Analyse- und Diskussionsprozess wurden Themenfelder an der Schnittstelle zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Ist- und Sollzustand definiert und formten damit Ausgangs- bzw. Bezugspunkte der künstlerischen Praxis.

Das Potenzial der Kunst als Motor und/oder Katalysator gesellschaftlicher Weiterentwicklung erlangt durch neue ambitionierte Formen der aufsuchenden Kunstvermittlung seinen höchsten Wirkungsgrad. Dies zeigt sich vor allem in Bezug auf die Gruppen der Kinder und Jugendlichen. Die Mischung aus der Stärkung des bereits Vorhandenen, wie etwa der Musikschulen und der Kreativ-Akademien, ging mit einem Ansatz einher, der gezielt die Selbstermächtigung und die Schaffung von kreativen Freiräumen wie Proberäumen und Ateliers ermöglichte. Kinder und Jugendliche als Subjekte und Objekte der gemeinsamen Weiterentwicklung der Stadt der Zukunft bekommen im Zuge des Kulturhauptstadtprojektes neue Inspirationen, neue Ideen, neue Diskussions- und Möglichkeitsräume und versinnbildlichen den Nachhaltigkeitseffekt. 

Die Nachbarschaft als Aktionsfeld

Wir leben in einem Europa, das sich in seinem Grundverständnis der Einheit, Solidarität und Prosperität sowie der Grundwerte wie Demokratie und Frieden herausgefordert sieht. Es ist nicht die Aufgabe einer Stadt, diese Fragen zu lösen, doch die europäische Idee beginnt bei den Menschen zu Hause. Das gemeinsame friedliche und partnerschaftliche Zusammenleben mit dem wechselseitigen Respekt vor dem anderen, gilt als klares unverhandelbares Ziel für die Gemeinschaft der EU ebenso, wie auch für ein kleines Dorf in Niederösterreich.

»In Vielfalt geeint« nennt sich das Motto der EU und dient als eines der Leitmotive des europäischen Kulturhauptstadtjahres in St. Pölten. Denn so wie es in der EU die gute Nachbarschaft der Mitgliedsstaaten zur Lösungen der großen Herausforderungen braucht, so stützt sich eine Stadt und ihre Region auf die gute Zusammenarbeit und die Nachbarschaft der Gemeinden, der Stadtteile, der Institutionen, der Vereine, der Bürger*innen.

In St. Pölten selbst ist das Potenzial dieses Ansatzes in Form vieler kleiner Nachbarschaftsprojekte greifbar geworden. Nicht jedes war erfolgreich, doch man hat aus den Fehlern gelernt und heute sehen wir etwa nachbarschaftlich konzipierte Spielplätze, neue Nutzungen und Bespielungen von öffentlichen Räumen, Anlaufstellen für Zukunftsprojekte in jedem Stadtteil, neue (in St. Pölten entwickelte und erprobte) technologische Applikationen für die Organisation ehrenamtlicher Arbeit und für innovative Sammeltaxi-Systeme zur mobilen Erschließung von Stadt und Region. Es entstanden Experimentiermöglichkeiten mit dem Fokus auf die zündende Idee bei gleichzeitig größtmöglicher Unterstützung bei der Organisation und Verwaltung.

Neue Netzwerke

Der Schlüssel für die Entstehung eines gewissen Pioniergeistes liegt dabei in einem gemeinsam neu geknüpften Netzwerk der Stadt begründet. Das große und ambitionierte Ziel, Kulturhauptstadt Europas zu werden, definierte eine Zukunftsvision, die St. Pölten zu neuen Ansätzen und Ideen inspirierte. In Kooperation mit anderen europäischen Städten, in Diskussion mit visionären Expert*innen aus den verschiedensten Bereichen und in der Analyse von »best practice« Beispielen, wurden gemeinsam mit den lokalen Akteur*innen maßgeschneiderte Konzepte für St. Pölten entwickelt. Dabei entstanden neue wechselseitig befruchtende Verbindungen zwischen den Schulen und Kultureinrichtungen, zwischen den Hochschulen, ehrenamtlichen Vereinen und der Wirtschaft, zwischen Stadtplaner*innen und neuen zivilgesellschaftlichen Initiativen, zwischen Historiker*innen und Zukunftsforscher*innen, zwischen Künstler*innen und der Bevölkerung, ja zwischen den Bürger*innen und Europa. 

Die Verbindungen zu den europäischen Nachbarn erfolgt dabei nicht vertikal über die nationalstaatliche auf die europäische Ebene, sondern horizontal zwischen europäischen Regionen, Städten, Institutionen und Bürger*innen. Denn unabhängig von Land und Sprache teilen wir uns nicht nur einen Kulturraum, sondern wir teilen auch Herausforderungen – von den Fragen der Stadtentwicklung, der Mobilität, der Bildungsinfrastruktur über soziale Herausforderungen wie die Integration neuer Bewohner*innen oder der Umgang mit dem Anstieg der Anzahl an pflegebedürftigen Menschen, bis zu neuen Formen der Einbindung und Teilnahme der Bevölkerung an städtischen Transformationsprozessen.

»Lasst uns die europäische Stadt der Zukunft entwickeln« war die zugrunde liegende Maxime der Kulturhauptstadtvorbereitungen in St. Pölten. Kunst und Kultur als Instrumente, ja Triebfedern auf dem Weg in die Zukunft ermöglichten die Schaffung von Experimentierfeldern, in denen Pioniergeist und Innovation für die Bevölkerung wie auch für die österreichischen und natürlich die europäischen Besucher*innen sichtbar, hörbar, spürbar und erlebbar werden. Die Kulturhauptstadt als Zukunftsschmiede!

28. Mai 2018


Autor

Jakob Redl
Projektleiter Büro St. Pölten 2024


Weitere Artikel des Autors

»St. Pölten – Mitten in Europa«: Was ist das Europäische an der ­Kulturhauptstadt?


Dieser Artikel ist im KulturJOURNAL#2 (Ausgabe Mai/Juni 2018) erschienen.

KulturJOURNAL#2

 

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden