St. Pölten als Vorzeigemodell einer lebenswerten Mittelstadt

Was kann Europa an und von St. Pölten lernen?

Weltweit wohnen heute mehr Menschen in Städten als auf dem Land. In Europa sind es sogar 80 Prozent – wobei hier ebenso viele Menschen in Mittelstädten wie in Großstädten leben. In der öffentlichen Wahrnehmung sind es meist nur die großen Metropolen, die als Rollenmodell für die Entwicklung der Städte in Europa stehen. Dabei sind es nicht sie, die die Masse an Städten in Europa prägen. Es sind vielmehr die Klein- und Mittelstädte und Regionen, deren Zukunftsentwicklung, Lebensqualität, Dynamik und Attraktivität für die europäischen Städte entscheidend sind.

Im Wettstreit der Städte untereinander sind deshalb gerade die europäischen Klein- und Mittelstädte ganz besonders gefordert, auf den Wandel der Lebensstile, der demographischen Strukturen und des mit der Digitalisierung rapide voranschreitenden wirtschaftlichen und strukturellen Wandels zu reagieren. 

Die Bewerbung St. Pöltens als Kulturhauptstadt Europas 2024 kann genau dies zum Anlass und zur Chance seines kreativen und inhaltlichen Anspruchs und Programms machen. Berücksichtigt werden müssen dabei vielfältige Ansprüche an eine wachsende Bedeutung von Kunst und Kultur als wesentliche Kräfte und Impulsgeber räumlicher wie funktionaler Veränderungsprozesse. Stellvertretend für viele andere europäische Mittelstädte kann und will St. Pölten hier deutliche und nachhaltig wirkende Impulse setzen. Die Voraussetzungen dazu sind ausgesprochen gut, kann die Stadt doch auf eine besondere europäische Geschichte, auf ausgezeichnete kulturelle Angebote und auf ein herausragendes bürgerschaftliches Engagement aufbauen.

Typ Mittelstadt – Zwischen Stadt und Land

Was ist eigentlich eine Mittelstadt? Mittelstädte liegen meist irgendwie »dazwischen«. Nicht zu groß und nicht zu klein, mit 20.000 bis 100.000 Einwohner*innen. Moderate städtebauliche Dichten, Kinder- und Familienfreundlichkeit und ein hohes Wohnniveau gehen einher mit guten Erholungsqualitäten und vergleichsweise differenzierten kulturellen Angeboten und Arbeitsplätzen. Es ist daher auch nicht überraschend, dass eine Mittelstadt wie St. Pölten gerade für Familien als Wohn- und Lebensmittelpunkt große Attraktivität ausstrahlt. Sie ist groß genug, um das urbane Leben zu genießen, gleichzeitig aber auch nicht zu groß, was sie – im Vergleich zu Großstädten – nachbarschaftlich, überschaubar und sicher erscheinen lässt.

Ein bedeutendes Merkmal von Mittelstädten ist ihr Bedeutungsüberschuss in der Region. Dies findet seinen Ausdruck im Vorhandensein von Handels-, Dienstleistungs-, Bildungs- und Kulturangeboten, die weit über die Bedarfe der jeweiligen Stadt hinausgehen und die ihre Zentralität bestimmen – so wie dies in besonderer Weise auf die Landeshauptstadt St. Pölten zutrifft. Viele dieser zentralen Angebote und Einrichtungen finden sich in der Mitte der Stadt und wirken damit maßgeblich auch auf die urbanen Qualitäten St Pöltens.

»Mittelstädte sind groß genug, um das urbane Leben zu genießen, gleichzeitig aber auch nicht zu groß, was sie – im Vergleich zu Großstädten – nachbarschaftlich, überschaubar und sicher erscheinen lässt.« 

Interessanterweise bringen wir »Stadt« und »Urbanität« meist aber nur mit großen und sehr großen Städten in Verbindung. Indem wir uns dabei am pulsierenden Leben der Metropole, an ihren ästhetischen Qualitäten und ihren vielfältigen kulturellen Angeboten orientieren, verlieren wir schnell den Blick auf die spezifischen urbanen Qualitäten einer Mittelstadt. 

St. Pölten und die Kultur(hauptstadt)region

Bis weit in die jüngere Geschichte hinein, waren es gerade die Klein- und Mittelstädte, die zum Sinnbild des Urbanen für die benachbarte regionale Bevölkerung wurden. Die Städte übernahmen eine wichtige »Mittlerrolle« bei der Modernisierung und Urbanisierung der ländlichen Gesellschaft. Dies trifft auch auf das regionale Gefüge von St. Pölten zu. Dieser Stellenwert hat sich im Laufe der Zeit jedoch tiefgreifend verändert.

Das sich einst widersprechende Verständnis von »städtisch-urbanem« einerseits und »dörflich-ländlichem« andererseits gehört längst der Vergangenheit an. Aufgrund eines fortschreitenden Wandels der Lebensstile, der kulturellen Vielfalt, der Mobilität wie der Wirtschaftsstrukturen findet sich das »Städtische« mittlerweile im »Dörflichen« ein, während das »Dörfliche« immer mehr Einzug in die Quartiersentwicklung der Stadt hält. Die Grenzen fließen ineinander und sind dynamisch.

Längst sind es hochkomplexe Prozesse, welche das regionale Gefüge prägen. St. Pölten: eine mittelgroße Stadt, urban und dennoch noch ländlich geprägt, provinziell im gut verstandenen Sinne und ein sie umgebender regionaler Raum, der kulturell hoch aufgeladen ist. Das gibt es nicht oft in Europa! Genau dies gilt es im Sinne der Kulturhauptstadt Europas 2024 weiterzudenken!

Die Schärfung spezifischer Eigenheiten, Qualitäten und Begabungen in dem dynamischen Spannungsfeld von Stadt und Land rücken in den Fokus des Selbstverständnisses und des kulturellen Profils der Kultur(hauptstadt)region St. Pöltens. Es gilt, Gestaltungsspielräume für regionale Entwicklung und Kooperationen zu eröffnen. Im Kontext touristischer Konzepte und Strategien ebenso wie bezogen auf die Entwicklung des Wirtschafts- und Kulturraumes insgesamt. 

Der Anspruch als Modellstadt

Eingebunden in die Region, will die Mittelstadt St. Pölten mit der einseitigen Ausrichtung der Bemessung von Urbanität und Stadtqualitäten am Maßstab der Großstadt brechen. St. Pölten kann und will zur Modellstadt, zum Referenz- und Laborraum für die kreative Auseinandersetzung mit den urban/ländlichen Qualitäten europäischer Mittelstadtregionen werden. Orientiert an dem Gedanken von Brigitte Schmidt-Lauber können und wollen wir in St. Pölten das »Urbane Leben jenseits der Metropole« zum Gegenstand und zur kreativen Reibfläche der Entwicklung des kulturellen Profils und der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2024 machen.

18. Mai 2018


Gastautor

Rudolf Scheuvens


Kooperationsnetzwerk der europäischen Mittelstädte

  • Gründung 1995 in St. Pölten
  • Plattform zum Austausch & zur Erarbeitung von Lösungsansätzen für Probleme von Mittelstädten

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Dieser Artikel ist im KulturJOURNAL#2 (Ausgabe Mai/Juni 2018) erschienen.

KulturJOURNAL#2

 

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