Hugo Portisch im Gespräch – Europa braucht Einigkeit und Solidarität

Der Kosmopolit, Humanist und überzeugte Europäer Dr. Hugo Portisch, 1927 in Pressburg (damals Tschechoslowakei) geboren, übersiedelte nach Kriegsende mit seiner Familie nach St. Pölten in das Haus seiner Großeltern. Er gehört zu den bedeutendsten Journalisten Österreichs und hat mit seinen Fernsehsendungen das Geschichts­bewusstsein einer ganzen Nation geprägt. Seit Anfang April 2018 ist er Ehrenbürger der Stadt St. Pölten. 

Hugo Portisch © Florian Müller
Michael Duscher, Siegried Nasko (ehem. Kulturstadtrat St. Pölten), Hugo Portisch, Christian Rapp (wissenschaftlicher Leiter Haus der Geschichte), Jakob Redl, Thomas Karl (Kulturamtsleiter St. Pölten)

Herr Dr. Portisch, Sie haben in Ihrer Kindheit und Jugend viel Zeit in St. Pölten verbracht, wie würden Sie die Entwicklung St. Pöltens in den letzten Jahrzehnten charakterisieren bzw. wo sehen Sie für die Zukunft das größte Entwicklungspotenzial?

Wenn ich an das St. Pölten meiner Kindheit denke, so ist das heutige St. Pölten daran nicht wiederzuerkennen. Das Haus meiner Großeltern befand sich ja in Oberwagram, das war ein kleines Dorf, in dem man sich aufmachte, um in die Stadt zu gehen. Und die Stadt fing jenseits der Traisen gerade erst mal an. Aber von dort ging es recht schnell zum Rathausplatz und damit war´s das auch schon. Dagegen ist St. Pölten heute eine moderne Großstadt. 

Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas wird immer wieder als großes Zukunftsprojekt beschrieben. Dabei stellt sich natürlich die Frage der europäischen Dimension als Bezugspunkt. Vor welchen Herausforderungen steht Ihrer Meinung nach unser Europa im Moment?

Das sind zwei Fragen in Einem, Kulturhauptstadt Europas zu sein ist immer eine positive Herausforderung, jede der bisherigen Kulturhauptstädte hat sich dieser Aufgabe gestellt, mit vielen neuen Gebäuden und Kulturstätten, hat an Selbstbewusstsein und Zukunftsperspektive wesentlich gewonnen. 

Die Herausforderungen Europas hingegen müssen gemeinsam von allen Mitgliedern angenommen und bewältigt werden. In allererster Linie bedarf es dazu aber der Einigkeit und des Willens, die Probleme gemeinsam und in großer Solidarität zu lösen. Zurzeit fehlt dieser gemeinsame Wille, Nationalismus und Populismus werden in einzelnen Ländern von den Politikern als Mittel zur Stärkung ihrer eigenen Herrschaft ausgiebig missbraucht.

Viele zentrale Neuerungen in der Geschichte Europas sind nicht zuletzt aus Krisen heraus entstanden. Welche Rolle können Städte bzw. Regionen in diesem Kontext einnehmen und worin lägen hier die Chancen bzw. Aufgaben St. ­Pöltens?

Es kommt auf die Art der Krise an. Bisher hatten wir es vorwiegend mit Finanzkrisen zu tun. Auch diese war nur durch gemeinschaftliche Anstrengungen zu bewältigen. Das waren Herausforderungen, die vorwiegend von den Regierungen der Mitgliedstaaten zu bewältigen waren. Einzelne Landeshauptstädte konnten da nur beisteuern, eine größere Rolle fiel ihnen nicht zu.

Sollte es aber einmal wieder zu einer ernstlichen Wirtschaftskrise kommen, da meine ich, dass eine Stadt wie St. Pölten gewiss eine bedeutende eigene Rolle bei der Bewältigung der entstehenden Aufgaben zu spielen hätte. Zurzeit hat Europa vor allem eine Flüchtlingskrise zu bewältigen. Und dabei kommt es gewiss auf jede einzelne Gemeinde an, das heißt, die Gemeinschaft und ihre politischen Funktionäre – die haben Mut, Menschlichkeit und Entschlossenheit zu beweisen. 

Sie sind viel gereist und haben geschichtliche Entwicklungen und Umbrüche persönlich miterlebt. Ist es aus Ihrer Sicht möglich, eine europäische Kultur zu definieren bzw. wodurch zeichnet sie sich aus?

Natürlich gibt es eine ausgeprägte europäische Kultur, die sich deutlich von den kulturellen Entwicklungen anderer Kontinente unterscheidet. Das hängt damit zusammen, dass es nirgendwo in der Welt so viele verschiedene, kleine und große Völker gibt wie in Europa. Ihr viele Jahrhunderte dauerndes Zusammenleben, auch ihr gemeinsames vor allem christlich geprägtes Weltbild und die daraus entwickelte Renaissance hat viel zur Entstehung europäischer gemeinsamer Kultur beigetragen.

Was würden Sie der Europäischen Union für die nächsten fünfzig Jahre wünschen?

Vor allem Einigkeit, Solidarität und den gemeinsamen Willen, das ungeheure Potenzial Europas zur Bewältigung großer Aufgaben einzusetzen. Etwa ein großes gemeinsames europäisches Projekt zur Rettung Afrikas – etwa analog zum Marshall Plan, den die USA zur Rettung Europas entwickelt haben. Denn eines werden die Europäer bald einzusehen haben: Nur wenn wir Afrika retten, können wir Europa retten. Interessanterweise, wenn auch wahrscheinlich mit anderer Zielsetzung, hat das China schon erkannt.

18. Mai 2018


Dieser Artikel ist im KulturJOURNAL#2 (Ausgabe Mai/Juni 2018) erschienen.

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