Die Potenziale einer Stadt im Aufbruch

Eine Stadt ist ein komplexes Beziehungsgeflecht aus unterschiedlichen Ebenen und Strukturen, die sich wiederum aus kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, landschaftlichen und gestalterischen Elementen zusammensetzen. Wie man eine Stadt erlebt und welche Schwächen, Stärken und Potenziale man ihr zuschreibt, ändert sich je nachdem wie und zu welcher Zeit man die Stadt nutzt, welche Orte für das persönliche Leben prägend waren und sind, welchen Beruf man ausübt, wie man sich in der Stadt fortbewegt – und ob man sie mit einem »Blick von außen« oder aber als Stadtbewohner*in selbst, mit einem »Blick von Innen« ­wahrnimmt. 

Zugeneigte Türme © Norbert Steiner
»Zugeneigte Türme« von Norbert Steiner

Für mich, als einem seit langem in Wien lebenden Oberösterreicher, formten vor meiner Bestellung als Geschäftsführer für die Bewerbung St. Pöltens als Kulturhauptstadt Europas 2024 einige Erlebnisse mein Bild von St. Pölten. Als damaliger frequency-Besucher auf der Suche nach einem guten Kaffee in entspannter Umgebung, verließ ich den Zeltplatz an der Traisen und fand mich plötzlich überraschenderweise in einer charmanten barocken Altstadt wieder – und kehrte nach jeder frequency Nacht wieder zurück. Den Sonnenpark – als spannendes Experimentierfeld für den selbstermächtigten Remix von Kultur und Grünraum – hätte ich beim Besuch des parque-del-sol Festivals so eher in Berlin als in St. Pölten vermutet. Die beiden Seen im Norden der Stadt geben mir immer wieder ein spontanes Urlaubsgefühl.

In meiner damaligen Wahrnehmung war auch der Klangturm etwas Aufsehenerregendes, Neues und Innovatives – ein »Must-See« auch für Nicht-St.Pöltner*innen. Aus heutiger Sicht ist er Symbol für ein ambitioniertes Projekt, das derzeit allerdings im Dornröschenschlaf schlummert. Als »Schnittstelle zwischen den Verwaltungsgebäuden und dem Kulturbezirk« könnte er ebenso wie eine Kulturachse eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer Verbindung zwischen der barocken Altstadt und dem Kulturbezirk leisten. Meine ersten Versuche diesen auf dem besten – im Sinn von logisch, kurz, interessant – Weg zu Fuß zu erreichen, scheiterten übrigens aufgrund der mangelnden Wegkennzeichnung – oder weil es diesen Weg so noch nicht gibt? 

Als Autofahrer gab St. Pölten wiederum eine andere Seite preis: Mein Navigationssystem führte mich bei der Parkplatzsuche unmittelbar  in das Herz der Landeshauptstadt – dem Domplatz. Wie ich später erfuhr, bietet die Innenstadt die österreichweit größte Anzahl an Parkplätzen pro Kopf. Nutze ich wiederum den öffentlichen Verkehr, erlebe ich diesen als Verbindung und Abgrenzung zugleich: Während die Bahnstrecke St. Pölten–Krems zur inneren Entschleunigung beiträgt, bin ich von Wien aus in exakt 21 Minuten mitten in der St. Pöltner Altstadt.

Viele dieser Eindrücke mit einem Blick »von außen«, decken sich aber auch mit jenen der Stadtbewohner*innen. Bei zahlreichen KulturGESPRÄCHEN sowie beim Bürger*innen-Dialogformat KulturFORUM #1 konnten wir Themenfelder und Baustellen identifizieren, die vielen St. Pöltner*innen bereits seit längerer Zeit am Herz liegen – die sich im Lauf der Analyse des Ist-Zustands von St. Pölten immer mehr manifestiert haben und auch große Potenziale bergen:

Identität 

St. Pölten ist eine gewachsene Struktur mit elf Stadtteilen und 42 Katastralgemeinden. Dementsprechend sind die Eigenheiten jedes Stadtteiles nicht einfach zu einer »gemeinsamen St. Pöltner Identität« zusammenzufassen. Auch die Landeshauptstadtwerdung ist in vielen Köpfen und Herzen noch nicht ganz angekommen. Diese Vielfalt der Identitäten kann allerdings durchaus als Stärke gesehen werden, die es zu nutzen gilt.

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St Pölten wird – trotz seiner für eine Mittelstadt überdurchschnittlichen Anzahl an Kulturangeboten – in der Außenwahrnehmung noch nicht als Kulturstadt gesehen. Zu nahe sind die Kulturstädte Wien und Krems. Zu fern das Bewusstsein, dass St. Pölten als eine der ältesten Städte Österreichs und schöne Barockstadt sehr wohl seine Reize zu bieten und ein qualitativ hochwertiges kulturelles Angebot aufzuweisen hat.

Stadt/Land

»Ist das noch Stadt?«: Innerhalb des Stadtgebietes von St. Pölten wechseln bauliche Dichte mit großzügigen Grünräumen und landwirtschaftlich genutzten Flächen. Das Stadt/Land-Verhältnis ist somit schon innerhalb der Stadt spürbar. Durch diese Kleinräumlichkeit ergibt sich aber auch ein Mehrwert an Lebensqualität: Man lebt im Grünen und ist trotzdem (sehr schnell) in der Stadt. 

Nutzstadt vs. Lebensstadt

Viele Menschen nutzen die Stadt – etwa um einer Arbeit nachzukommen, um Erledigungen des täglichen Lebens zu tätigen oder um in die Schule zu gehen – verlassen sie aber danach wieder. Der »Transitraum St. Pölten« bietet allerdings viele derzeit ungenutzte Räume, die für diverse Zielgruppen, z.B. Kinder und Jugendliche, zugänglich gemacht und so (konsumfreie) Erlebnisräumen geschaffen werden könnten.  

Verbindungen innerstädtisch und regional 

Ein wichtiges Thema spielen auch die Verbindungen innerhalb der Stadt: die Stadtteile untereinander, die Altstadt mit dem Regierungsviertel, die Zugänglichkeit des Traisenufers. Aber auch die Vernetzung mit der Region, z.B. durch eine Kulturachse Krems–St.Pölten, und darüber hinaus ist derzeit noch unzureichend entwickelt. Gerade die Schaffung einer Kulturregion birgt eines der größten Potenziale, nachhaltig auf die europäische Kulturtourismus-Landkarte zu gelangen. 

Mobilität 

Beim öffentlichen Verkehrsnetz sind die Stadt und die umliegenden Regionen gegenüber Wien klar im Nachteil was Frequenz, Fahrzeit und Fahrplan betrifft. Daraus ergibt sich eine Verschiebung der räumlichen und zeitlichen Dimension. Wien liegt zwar geografisch weiter weg, ist aber durch die Westbahnstrecke und die kurze Fahrzeit näher als die umliegenden Orte.

Diese Liste an Stärken und Schwächen, die einen Auszug der Ergebnisse darstellt, ist Ausgangspunkt für die Ableitung von Potenzialen und spezifischen Handlungsfeldern wie etwa die Neudefinition öffentlicher Plätze, die Belebung der Traisen oder die Entwicklung von Projekten, die diese Bewerbung unterstützen werden. Nicht der Ist-Zustand einer Stadt ist ausschlaggebend für die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas, sondern die vorgefundenen Ressourcen, Geschichten und Entwicklungsmöglichkeiten. 

Dass sich St. Pölten als Kulturhauptstadt bewirbt, sorgt im Rest von Österreich in der ersten Reaktion oftmals für Verwunderung. Bei genauerer Betrachtung ist genau dieses Entwicklungspotenzial ein essentieller Grund, wieso der Titel einer Kulturhauptstadt als Instrument zur Stadtentwicklung in St. Pölten sinnvoll ist. »Kulturhauptstadt Europas« ist kein Schönheitswettbewerb, sondern fungiert als Katalysator, als »Vehikel«, um uns gemeinsam auf die Suche nach den vorhandenen Potenzialen in St. Pölten zu begeben und diese zu aktivieren. Modelle und Konzepte können mittels Projekten an der Schnittstelle von sozialem Format, Architektur und Kunst in einer »Laborsituation« erprobt werden, um damit strukturelle, gesellschaftspolitische, soziale und ästhetische Themen aufzugreifen.

Von der Provinzstadt zur innovativen Mittelstadt

Mit dem Instrument »Kulturhauptstadt Europas« und dem den St. Pöltner*innen eigenen  - so auch ein Ergebnis der KulturGESPRÄCHE - Mittel der Selbstironie, Ehrlichkeit und Bodenständigkeit können Nachteile in Vorteile, Schwächen in Potenziale umgedreht werden. Der Vergleich des Blicks von außen mit dem Blick von Innen hilft zweifach: spannend sind einerseits die Themen die sich überschneiden, andererseits lohnt es sich dort genauer hinzusehen, wo es unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. 

Unter der Devise »small ist beautiful« werden die lebenswerten Vorteile einer Mittelstadt gegenüber einer Metropole –  Nahbarkeit, kurze Wege, persönliche Kontakte, kurze Kommunikationswege, einfache Vernetzung und andere Vorteile –  zu einer guten Mischung aus neuer Urbanität und Ländlichkeit subsumiert. Dadurch hat St. Pölten das große Potenzial, vom der »Provinzstadt« zu einer Mittelstadt mit Vorbildcharakter für andere europäische Städte dieser Größe innerhalb einer Metropolregion zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen braucht es allerdings viel Engagement der St. Pöltner*innen und den Willen, aktiv an der Gestaltung des eigenen Lebensraumes mitzuarbeiten und sich in den Bewerbungsprozess miteinzubringen. Sie sind es, die eine Stadt prägen und ihr eine vielfältige Identität und Zukunft geben.

18. Mai 2018


Autor

Michael Duscher
Operativer Geschäftsführer Büro St. Pölten 2024


Weitere Artikel des Autors

Der »Beschluss Nr. 445/2014/EU« So läuft der Bewerbungsprozess ab


Dieser Artikel ist im KulturJOURNAL#2 (Ausgabe Mai/Juni 2018) erschienen.

KulturJOURNAL#2

 

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