Susanne Wolfram im Gespräch – Die kulturelle Identität St. Pöltens. Eine Annäherung.

Susanne Wolfram arbeitet als Veranstalterin, Dramaturgin und Kulturvermittlerin an der Schnittstelle von Kunst und Gesellschaft und lehrt u.a. am Institut für Kultur­konzepte und an der MUK Musik und Kunst Privatuniversität Wien.

Seit 2005 fühlt sie sich eng mit St. Pölten verbunden: Sie war Leiterin der Kulturvermittlung am Festspielhaus St. Pölten und Mit-Initiatorin der Bürger*innen-Plattform KulturhauptSTART und arbeitet an der FH St. Pölten, Forschung und Wissenstransfer im Bereich Outreach und Public Engagement. Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Kultur und Zivilgesellschaft St. ­Pöltens.

Frau Wolfram, Sie forschen im Rahmen Ihrer Dissertation zur kulturellen Identität St. Pöltens. Wie kamen Sie auf dieses Thema, was reizte Sie daran?

Die vielen Jahre am Festspielhaus und die Arbeit mit St. Pöltner Initiativen und Bürger*innen haben mich überzeugt, dass Kulturvermittlung Inkubator für Stadtentwicklung und zivilgesellschaftliches Engagement ist. Die 2016 begonnene Dissertation war befeuert vom Bedürfnis der Praktikerin, die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Arbeit theoretisch abzusichern. Daraus hat sich in einem langen Prozess der Methodensuche u.a. folgende Frage herausgebildet: Was macht die kulturelle Identität der Stadt aus und wer prägt sie?

St. Pölten hat mit der Landeshauptstadtwerdung eine Zäsur im positiven Sinne erlebt. Wie lässt sich die St. Pöltner Ausgangsposition jetzt am Beginn der Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2024 beschreiben?

Meine Untersuchung beginnt mit der Ära Schloemer am Festspielhaus – beschränkt sich also auf die letzten zehn Jahre. Aber das massive Investment in politische und kulturelle Repräsentation, die mit dem Bau des Regierungsviertels in St. Pölten getätigt wurde, der Qualitätsboom kultureller Nahversorgung, der den St. Pöltner*innen damit beschert wurde, und das schrittweise Zusammenwachsen von Stadtbevölkerung, Regierungsviertel und landesnahen Kulturbetrieben in St. Pölten hat ohnehin Vorlauf gebraucht und unter Schloemer erste Blüten getragen.

Sein Schritt auf die Bürger*innen zu und sein Interesse am Ort, an dem 1997 das »UFO Festspielhaus« gelandet war, kam zum richtigen Zeitpunkt und die Brücken zum Beispiel eines Café Publik mit Verwirklichungs-Angeboten an die Bevölkerung – von Tangokurs bis Jugendklub – waren ein Anfang, ohne den vielleicht eine Bürger*innen-Bühne des Landestheaters, ein Welt-Chor oder eine engagierte St. Pöltnerin an der Spitze der Bühne im Hof nicht so bald passiert wären.  Jetzt ist es Zeit für den nächsten Bedeutungssprung!

Das kulturelle Leben ist aber natürlich keineswegs auf die großen Institutionen beschränkt. Wie sehen die Kulturakteur*innen, die Sie befragt haben die sogenannte »freie Szene« der Kulturinitiativen in St. Pölten?

Das ist eine der wesentlichsten Erkenntnisse meiner qualitativen Forschung: Dass nämlich St. Pölten gerade deshalb ein so fruchtbarer Boden für die institutionalisierten Angebote der Kulturvermittlung und für die Handreiche der NÖKU-Betriebe war und ist, weil es hier schon lange eine ausdifferenzierte Kultur der Selbstermächtigung gibt. Soziokultur, Zusammenschlüsse von Künstler*innen, die engagierte Musikschule und das über die Landesgrenzen hinaus beachtete BORG als Kaderschmiede der Künste zeichnen St. Pölten aus. Viele der heutigen Akteur*innen sind sozialisiert im Umfeld von Proton, LAMES, Koll, Höfefest, Cinema Paradiso etc., die auf Initiative einiger ausgehungerter Kreativer aus einem Desiderat erwachsen sind.

Sie arbeiten gegenwärtig in der Wissenschaftsvermittlung der FH St. Pölten. Welche Rolle sehen Sie für die St. Pöltner Hochschulen im Rahmen des St. Pöltner Kulturlebens?

Hochschulen können von Kulturbetrieben lernen, sich in Fragen ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Diskurs auf die Stadtbevölkerung zuzubewegen und Allianzen mit nichtwissenschaftlichen Communities zu schließen. Die FH St. Pölten ist eine der forschungsstärksten Fachhochschulen in Österreich. Die Vielfalt der Themen, die hier behandelt werden, bringen den Standort St. Pölten massiv voran – der Standort muss diese Expertise aber auch abschöpfen. Da sind noch viele Barrieren auszuräumen. YOUNG CAMPUS. Das Zukunftsfestival der FH für alle (jungen) St. Pöltner*innen gleich ihrer Herkunft oder ihres Vorwissens erschließt die Zukunft der Stadt kreativ und inklusiv am Puls der Forschung.

Wir beschäftigen uns viel mit der Frage des Verhältnisses einer Mittelstadt zu einer Metropole. Wie ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis St. Pöltens zu Wien, sowohl was die positiven als auch die negativen Einflussfaktoren betrifft, einzuschätzen?

Zwei Haltungen sehe ich: einerseits die Angst vor Brain-Drain und davor, dass gewisse urbane Bedürfnisse in der Metropole befriedigt werden und deshalb in St. Pölten nicht angeboten werden (müssen). Andererseits das Plus, dass durch die räumliche Nähe einer zwanzigminütigen Zugfahrt – in London lachen sie mich aus, wenn ich das »pendeln« nenne – St. Pöltner*innen, die zum Studium oder zur Arbeit nach Wien abwandern, sich weiterhin in St. Pölten engagieren.

Am Festspielhaus habe ich einen schönen Bogen erlebt: Michael Birkmeyer – von der Staatsoper kommend – hat in Programmierung und Ansprache ganz auf ein Wiener Publikum fokussiert. Joachim Schloemer war versessen, mit den St. Pöltner*innen hier ein kleines New York oder Berlin entstehen zu lassen und Brigitte Fürle schließlich versteht, dass gerade im Kleinen, Entschleunigten für internationale Top-Künstler*innen ein Reservoir an schöpferischer Energie liegen kann. St. Pölten muss nicht New York werden – auch nicht Wien oder Wiener Speckgürtel. Es darf eine eigenständige, kreative und nahbare Mittelstadt werden.

Welche Ansatzpunkte können Sie ausgehend von Ihrer Forschung St. Pölten für die Kulturstrategie 2030 empfehlen?

Bitte bleiben Sie so nahe wie möglich an den Menschen dieser Stadt dran. Auch an denen, die sich nicht eingeladen fühlen!

18. Mai 2018


Dieser Artikel ist im KulturJOURNAL#2 (Ausgabe Mai/Juni 2018) erschienen.

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